Kairos, der rechte Moment
Märchen sind eine weitere uralte Methode, das Seelische im Menschen zu beschreiben und ihr in krisenhaften Situationen Nahrung zu geben. Moderne Astronomen finden die Mythen der Sternbilder oft lächerlich, naiv sowie schlichtweg überholt. Die Tiefenpsychologie hingegen hat längst erkannt, welche Heilkraft für die Seele diesen Urbildern der Menschheit innewohnt. Beispielhaft genannt seien Fritz Riemann und C. G. Jung. Und viele moderne Astrologen wie Hermann Meyer, Liz Greene und C. F. Frey schufen moderne therapeutische Ansätze. Da diese Denkweise auf Analogieketten aufbaut, läßt sich keine Verbindung zur etablierten Physik herstellen.
Wenn im folgenden von Ouranos berichtet wird, dann meint dies zugleich den altgriechischen Gott des Himmels, die Qualität der Zeit, der durch Astronomen entdeckte und zufällig von ihnen so benannte Planet Uranus, sowie die diesem Planeten von astrologischer Seite zugeordneten Eigenschaften. Und Kronos (griechisch) bzw. Saturn (römisch) ist zugleich der Sohn dieses Gottes, die Quantität der Zeit, und bis zum Beginn der Neuzeit für die Astronomen-Astrologen (damals noch nicht getrennte Berufe) der äußerste Planet. Die Erdgöttin Gäa bzw. Gaia repräsentiert als Schwester und Geliebte des Ouranos zugleich die Erde. Folgende uralte Geschichte findet sich in der griechischen Mythologie:
Am Anfang aller Zeiten gab es nur Himmel und Erde. Jeden Abend, wenn die Sonne versunken war und sich die Wolken hinabsenkten, umarmte der Himmelsgott Ouranos seine Schwester, die Erdgöttin Gäa. Des Nachts zeugten sie gemeinsam Kinder und am Morgen, als der helle Tag begann, rissen Himmel und Erde wieder auseinander, gingen auf Distanz, trennten sich.
Tag für Tag wiederholte sich das gleiche Spiel. Es entstand das Universum, und viele Kinder wurden geboren. Doch aus der Perspektive des Himmelsvaters sahen sie alle zu plump, zu roh und unbeholfen aus. Keines genügte seinen Ansprüchen und er stopfte sie zurück in den Bauch der Erdmutter.
Gäa wurde immer wütender, konnte diese Zurückweisung nicht ertragen. War sie nicht immer fruchtbar gewesen, hatte sie nicht immer das ihrige zur Entstehung des Universums getan? Heimlich fertigte sie eine Sichel an und schloß einen Pakt mit dem jüngsten und wohlgeratensten ihrer Söhne. Kronos sollte nach dem Sturz des Vaters die Herrschaft über die ganze Welt antreten. „Nur“ zwei Dinge wollte Gäa für sich behalten: Macht über Geburt und Tod.
Kronos wartete im Bauch seiner Mutter auf die Nacht. Als Ouranos sich wie gewohnt zu seiner Schwester-Geliebten legte, wurde er von seinem Sohn mit einem Schnitt entmannt. Kastriert und blutend floh er gen Himmel, während sein abgeschnittenes Glied ins Meer fiel.
Daraus entstand dann Venus-Aphrodite, die Schaumgeborene. Saturn befreite all seine Geschwister. Kronos heiratete eine seiner Schwestern. Aus Angst, wiederum vom eigenen Kind gestürzt zu werden, verschlang er seine Nachkommen sofort nach der Geburt.
Letztlich war es dann Zeus’ Sohn Jupiter, der mit Hilfe seiner Geschwister den Vater übermannte und die Herrschaft antrat. Seine Mutter Gäa behielt aber weiterhin die Macht über zwei Dinge: Geburt und Tod.
Wir alle werden durch die Zeit geboren und vergehen mit ihr auch wieder. Kronos/Saturn hält auf alten Drucken die Sichel des Kastrierers bzw. die Sense des großen Schnitters in der Hand, welcher die Kornähren des Lebens mäht. Im Horoskop bezeichnete er den Punkt größten Unglücks, von Armut, Krankheit und Gefängnis. Es ist damit auch der quantitative Aspekt der Zeit gemeint, die Minuten, Stunden, Tage und Jahre, mit denen die eigene Lebenszeit unerbittlich zerrinnt. Wer sich seine Vergänglichkeit verdeutlicht, die zur Verfügung stehenden Kräfte bewußt einteilt und Selbstdisziplin übt, kann Großes leisten.
Zu den Schattenseiten von Kronos, dem stets gleichförmigen Zeitbegriff, gehören die stupiden Dogmen der Konvention, ewig gleiche Handlungsabläufe und stets aufs neue zu absolvierende Pflichten, die völlig unabhängig vom individuellen Lebensrhythmus zu bewältigen sind. Seine alte Zuordnung zum Zeichen Wassermann weist auf große geistige Konzentrationskraft hin, aber auch auf seine konservativen, spießigen Seiten.
Uranus steht für die Qualität der Zeit, ihre subjektiv empfindbare Eigenheit, und ist heutzutage diesem Zeichen zugeordnet. Es heißt, daß Wassermanngeborene extreme Differenzen zwischen ihrem inneren Rhythmus und den äußeren kontinuierlichen Zeitvorgaben erleben. Zeiten tiefer Lethargie wechseln sich ab mit Momenten konzentrierten Erlebens, in denen blitzartig viele Handlungsfäden zusammenlaufen. Solche Charaktere fühlen sich erst dann frei, wenn sie nach ihrer inneren Uhr leben können – und diese wirklich starken Schwankungen unterliegt.
Saturn/Kronos als Quantität und Uranus als Qualität der Zeit – gebündelt werden sie in Kairos, dem rechten Moment. Dieser alte griechische Begriff wurde im Mittelalter hauptsächlich für die Alchemie benutzt. Er bezeichnete die astrologisch richtige Zeit, zu der ein chemisches Experiment gelingen kann. Arbeitete man z. B. mit Quecksilber (Mercurius), dann mußte der hierzu analoge Planet Merkur günstig stehen. Kairos ist also der rechte Moment, Brennpunkt saturniner Quantität und uranischer Qualität der Zeit.
Zwei Gesichter hat die Zeit, ein meßbares und ein spürbares.
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