Das Denken im Kreise
Ein Weib in Nonnentracht mit breit gespreizten Schenkeln, aus deren Mitte Flüssigkeit auf den Boden rinnt, sitzt inmitten eines Zodiaks, eines Rades von Tierkreiszeichen. Das Fruchtwasser ist bereits ausgelaufen, die Geburt beginnt. Neun Mondumläufe, d. h. neun Monde sind vergangen. Einen Fächer oder Kristall mit neun Streifen hält sie hoch zum mütterlichen und launischen Tierkreiszeichen Krebs, dem Zeichenregenten des Mondes.
Die Reihenfolge der Symbole des Zodiaks richtet sich auf der Abbildung nach dem Uhrzeigersinn, ist exoterisch ausgerichtet. Folglich geht es hier um konkretes Schaffen in der Welt der stofflichen Erscheinungen. Und rückwärts gelesen, links herum, wird Krebs zum neunten Zeichen entsprechend den neun Schwangerschaftsmonaten.
Die Alchemisten des Mittelalters verglichen die neunmonatige Entwicklung des Embryos im Mutterleib mit dem Wachstum eines edlen Steines, eines Lapis. Lange innere Reifung geht der Geburt voraus, und entsprechend stellte man sich das innerseelische Wachstum vor, den alchemistischen Prozeß der Persönlichkeitsbildung hin zur Meisterschaft. Linkswendig dreht sich der Kreis der Zodiakalzeichen bei Geburtshoroskopen. Der esoterische Blick des Astrologen geht also nach innen, richtet sich auf das Unsichtbare hinter den Erscheinungen, auf die innere Welt der Menschen.
Zwölf Vollmonde und zwölf Tage vergehen, bevor sich der Kreis des Jahres vollendet. Die Zahl zwölf bietet somit das beste Maß für das Verhältnis zwischen Sonne und Mond. Aus ihr entstand das Duodezimalsystem, welches noch heute für die Einteilung von Raum und Zeit benutzt wird: 12 x 5 Sekunden dauert eine Minute. Sie mit 12 x 5 multipliziert gibt eine Stunde, wiederum 12 x 2 ergibt einen Tag, und weiter 12 x 30 ein Jahr. Die Erdkugel ist in zwölf Zeitzonen von je 30 Längengraden eingeteilt und ein Grad entspricht vier Minuten Erdrotation
Das Zwölfersystem fördert das Denken in Kreisen und macht es leicht, sich geistig zwischen Raum und Zeit zu bewegen. Im Gegensatz zum konkurrierenden Zehner-Dezimalsystem, das linear und folgerichtig auf ein Ziel hinsteuert (es wird bei Computern eingesetzt und reduziert das Denken von Menschen, die mit Computern arbeiten, auf eine simple Kausalität), entbehrt das schon in Mesopotamien gebräuchliche Zwölfersystem jeglichen Ursache-Wirkung-Denkens. Mit ihm lassen sich Wechselwirkungen eines Ganzen erkennen, frei von Schuldzuweisungen.
Der kreisförmig angeordnete Zodiak kennt kein Besser oder Schlechter: Jedes Tierkreiszeichen ist in gewisser Weise die Weiterentwicklung des vorhergehenden, die Vorstufe des nächsten und das Gegenteil des gegenüberliegenden Zeichens. Beispielsweise folgt auf den intellektuell-oberflächlichen Zwilling der emotional empfängliche Krebs, dessen Gefühle wiederum der Löwe herausbringt, und dessen Gegenpol der rationale Steinbock verkörpert. Die Tierkreiszeichen kennen keine Hierarchie, genau wie keine Zeit im Jahreslauf verzichtbar wäre: Blüht im Sommer alles auf, so bringt der Winter die Vegetation zur notwendigen Ruhe. Keimt im Frühling die Natur, so schafft der Herbst mit seinen Früchten die Voraussetzung für einen Neuanfang.
Wachsen, Erblühen, Vergehen und Neuanfang: Was der Lauf der Sonne am Himmel im Großen während eines Jahres zeigt, findet sich durch die Drehung der Erde um die eigene Achse im Laufe eines Tages: Das Erwachen gleicht der Geburt, weiter geht das Leben über Vormittag, Mittag und Abend hin zum täglichen kleinen Tod, den Schlaf der Nacht. Zeitlich zwischen Jahr und Tag liegt der Monat mit dem Zyklus des Mondes. Seine Beziehung zum Femininen leitete sich seit alters her aus der Beobachtung ab, daß der weibliche Zyklus von Eisprung und Menstruation in etwa einem Umlauf des Erdtrabanten gleicht. Man setzte die Phasen des Mondes den Lebensphasen einer Frau gleich: In der aufgehenden Sichel nach Neumond sah man das junge Mädchen, im Vollmond die schwangere Mutter und im abnehmenden Mond a das alternde Weib.
Das für Männer immer wieder beeindruckende Erlebnis, Zeuge einer Geburt zu sein, mag viel dazu beigetragen haben, daß den Frauen magische Kräfte zugeschrieben wurden, die Mann entweder verteufeln oder beHerrschen mußte. Das persönliche Horoskop als hochmathematisch-intellektuelles Konstrukt, das nur von astronomisch und astrologisch geschulten Spezialisten exakt berechnet und gedeutet werden kann, entstand vielleicht auch aus dem männlichen Wunsch, der übermächtig und erdrückend wirkenden Weiblichkeit etwas entgegensetzen zu können.
Astrologie – eine maskuline Kopfgeburt? Dass der patriarchalische Blick hinaus in die Welt und hoch zu den Sternen geistige Unabhängigkeit schafft, und daß dies der beste Weg ist, sich aus der seelischen Abhängigkeit des heimischen Herdes zu entziehen (so lange es noch irgendwie geht), bleibt unbestritten. Festzuhalten bleibt, daß die kollektiven Seelenbilder des Weiblichen der Macht des Männlichen in nichts nachstehen - sie sind nur einfach anders!
So hatte denn auch das in die Sterne bzw. den Mond projizierte Weiblichkeitsbild der alten Griechen keineswegs nur freundliche Seiten. Als ehemalige Allgöttin aus matriarchalen Zeiten trug Hekate ursprünglich die Züge einer Magna Mater (Großen Mutter). In Thessalien, einem klassischen Hexenland bereits seit der Antike, war sie bereits im 5. Jahrhundert als Mondgöttin sehr populär.
Launisch hieß man die Göttin der Luna. Auf ihren Erd- und Unterweltscharakter weisen Attribute wie Schlange und Fackel hin. Des Nachts schwärmte sie auf Kreuzwegen, dreiköpfig mit drei Händepaaren, entsprechend der drei Phasen des Mondes.
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